Engel sind auch nur Geflügel
Egmont Pönisch mit
gezeichneter Krawattenverlängerung und Indianerfeder im Haar reicht der
älteren Dame in jungen Jahren die Hand. Aber Gabriele Seine präzise Erinnerung galt aber nicht dem damals erst neunjährigen Magnus Carlsen, sondern zwei – hinsichtlich ihres Alters – reiferen Schachspielern, die dort in der fünften Runde aufeinandertrafen: Peter Fröhlich und Lev Gutmann, der eine Internationale Meister, der andere Großmeister. Und wiederum war es nicht die Partie selbst, die Hertneck tief ins Gedächtnis aufgenommen hat, sondern die von Subjektivität getriebenen Kommentare der beiden Protagonisten danach, die von der Objektivität mindestens so weit entfernt waren, wie der Weg, den Magnus Carlsen gerade begann zurückzulegen, um an die Weltspitze zu gelangen. Fröhlich behauptete felsenfest, auf Gewinn gestanden zu haben, und Gutmann, der kaum im Verdacht steht, ein Witzbold zu sein, beanspruchte ebenfalls vehement, auf eine Gewinnstellung geblickt zu haben, selbstverständlich auf die eigene. Die Wirklichkeit verlieh der ambivalenten Stellungsbeurteilung eine dritte Sicht, denn selbst nach dem 40. Zug war die Partie immer noch total ausgeglichen, ganz überraschend: auf beiden Seiten des Brettes. Erst die Selbstüberschätzung des einen führte zum unerwarteten Sieg des anderen. Manchmal liegt genau in der Mitte zweier Extreme die Tatsächlichkeit versteckt. Dampfplauderei kennt keinen Erklärungsnotstand. Das weiß auch der Oberbürgermeister der Stadt Görlitz, Joachim Paulick, bei dem wechselnde Ansichten von Amts wegen zum Tagesgeschäft gehören, selbst wenn es sich nur oder gerade weil es sich ums Wetter dreht. Mal Regenmann, mal Schönwettergeist, für jeden was dabei. Wünschte er das letzte Mal den Äskulapianern den Regen herbei, hoffte er dieses Mal in seiner Eröffnungsrede, dass der Regen doch bis zum Abend aufhören möge. Das könnte eine interessante Frage sein, wenn die Antwort darauf nicht so egal wäre. Mit 106 vor allem auf die Auslosung gespannten Teilnehmern war das Auditorium im Haus Wartburg (gegenüber dem Vorjahr) wieder deutlich besser gefüllt, zahlenmäßig wie auch qualitativ. Besonders den sieben Großmeistern, den sechs Internationalen Meistern und auch den acht FIDE-Meistern im Teilnehmerfeld war sehr daran gelegen, nicht gleich am ersten Abend in einen Überraschungsschauer oder gar völlig in einen Platzregen zu geraten. Regenschirme gab es allerdings bereits in der Eröffnungsrunde nicht mehr für alle: Der Internationale Meister Virginijus Dambrauskas (DWZ 2353) aus Litauen stolperte in ausgeglichener Stellung im Mittelspiel plötzlich ganz schnell über Holger Slama (1970, SV „Gambit“ Kamenz), dem der unerwartete Erfolg beinahe peinlich war, und Oswald Bindrich (2132, SC 1994 Oberland) trauerte im Turmendspiel gegen Fridolin Mertens (1901, SG 1871 Löberitz) dem verschenkten Bauern nach. Beim Anblick des sachsen-anhaltinischen U16-Nachwuchsspielers fiel ihm auch die Zeitnot wieder ein, unter der er zu leiden hatte, nicht der Zeitmangel auf dem Brett beschäftigte ihn, der war erträglich, sondern jener in der Woche: sein Schachtraining in Zittau … 15 Kindergruppen … Kopfschütteln … kein Tag in der Woche frei … weiße Haare immer mehr … dann lieber wieder zurück ans Brett von Fridolin Mertens, der kurz vor dem 70. Zug gerade eine hübsche Brücke gebaut hatte, leider nur nicht für ihn.
Es waren die jungen Spieler, die vor allem in der ersten Turnierhälfte auffielen, René Zimmermann (1995, SG Grün-Weiß Dresden) zum Beispiel, der sowohl von Großmeisterin Barbara Jaracz (2222, SV Chemie Guben 1990) als auch von Großmeister Zigurds Lanka (2504, SG Königskinder Hohentübingen) jeweils einen halben Punkt erbeutete und gegen die beiden Internationalen Meister Leonid Sobolevsky (2162, Schachzirkel Elstertal Langenberg) und Grigorij Bogdanovich (2260, SF Bad Mergentheim) sogar eindrucksvoll gewann. Aber auch Michael Völz (1794, SV Muldental Wilkau-Haßlau) wuchs in den ersten vier Runden über sich hinaus: Nach einem Auftaktremis im Zeitnotgefecht gegen Dr. Dirk Jordan (2109, ZMD Schachfestival Dresden) folgten zwei überzeugende Endspielsiege, zunächst gegen den Aljechin-Experten Christian Noack (2023, Spielvereinigung Ebersbach) und später gegen Jens Windelband (2164, SG Aufbau Elbe Magdeburg). In der Französischen Verteidigung gegen Gordon Andre (2274, ebenfalls SG Aufbau Elbe Magdeburg) schien er sich noch einmal steigern zu können, weit bis ins Endspiel hinein blieb er ihm ein ebenbürtiger Gegner, aber für ein paar Feinheiten reichte die Ausdauer dann doch nicht mehr aus. Gordon Andre lavierte ihn in ausgeglichener Stellung schwindlig. Hatte sich der Andre’sche g8-Springer bis zum 26. Zug noch vergleichsweise ruhig und unauffällig verhalten, über den Pfad e7-f5-h4 schien er auf f3 ein gemütliches Plätzchen gefunden zu haben, begann er auf einmal mit den Hufen zu scharren und war ab dem 36. Zug nicht mehr zu bändigen. Innerhalb der nächsten 27 Züge veränderte das wilde Pferd 21-mal den Standort, trampelte auf seiner schwer zu verfolgenden Reiseroute (über f3-e1-c2-a3-b5-c7-e6-d8-f7-h8-g6-h4-f5-e7-d5-f4-d3-b4-d5-f4-e6-f4) zwei wichtige Völz’sche Bauern beiseite, um einem eigenen Bauern kurz vor dem Umwandlungsfeld schließlich den allerletzten Partiezug zu überlassen. Was für ein edles Ross hatte Andre da nur im Stall gehabt.
Der Magdeburger Gordon Andre hatte Luft zum Atmen fürs gesamte Turnier mitgebracht. Er ist kein Aufmerksamkeitstäter, der sich gern ins Licht stellt, eher jemand der auffallend unscheinbar ist, der sich nur dann aufstützt, wenn er ins Grübeln versinkt, sich ins Paralleluniversum der Gedankenspiele fallen lässt. Gerald Hertneck (2487, MSA Zugzwang 82) bekam es in der dritten Runde mit ihm zu tun. Und was der Münchner Großmeister von ihm sah, hatte ihn dermaßen beeindruckt, dass er ihn nach der Punkteteilung nicht mehr unbeobachtet ließ, ob in der anschließenden Rösselpartie gegen Michael Völz, gegen den ukrainischen Großmeister Vladimir Sergeev (2473) oder gegen den polnischen Großmeister Pawel Jaracz (2525, SG Trier). In der letzten Runde musste Gerald Hertneck seinen Beobachtungsstand schließlich am ersten Brett einrichten. Gordon Andre hatte Vladimir Sergeev ein Remis abgenommen und Pawel Jaracz in der sechsten Runde regelrecht aus dem Turnier geschossen. Nun spielte er in der Finalrunde am Spitzenbrett gegen den dreimaligen Äskulapgewinner, Großmeister Sergei Ovsejevitsch (2562, SK Gau-Algesheim), sogar um den Turniersieg mit, und das fast unbeobachtet, im Lichtschatten der über zwanzig internationalen Titelträger.
Im Scheinwerferlicht stand in der sechsten Runde aber eine ganz andere Begegnung, eine Partie, die am Tisch Nr. 38 ausgetragen wurde, eine Partie, die zweifellos Äskulapgeschichte schrieb. Stephan Völz (1935, SV Muldental Wilkau-Haßlau) gelang im Budapester Gambit gegen Chanda von Keyserlingk (1521, SV Lok Dresden) in acht Zügen die kürzeste Mattminiatur in der langen Historie dieses Turniers. Noch schneller war an diesem Morgen nur noch Andreas Neumeyer (2033, SC Leipzig-Lindenau), aber in einer ganz anderen Disziplin, und das auch noch ziemlich erfolglos. Sein erster flotter Ansturm am Frühstückstresen wurde denkwürdig pariert: „Erstens haben wir keine Bockwurst und zweitens ist es noch nicht um zehn.“ Coffee to go – das hieß für Neumeyers Verhältnisse, mit fast leeren Händen wieder zurück ans Brett zu kehren. Weiterspielen unter erschwerten Bedingungen. Mehr als ein halber Punkt war nach diesem rustikalen Nahrungsentzug nicht zu holen.
Unvergessen bleibt für Steffen Ranft (2114, SV Motor Hainichen 1949) die Partie gegen FM Cliff Wichmann (2270, ESV Nickelhütte Aue) aus dem vergangenen Jahr. Einzügig hatte er da seine Partie weggeworfen. Statt das Endspiel seelenruhig nach Hause zu schaukeln, unterlief ihm in Gewinnstellung ein jämmerlicher Fehler. Unmittelbar danach wurde er in nur zwei Zügen auf tragische Art und Weise brutal Matt gesetzt. Dieses Mal spielte er wieder mit Schwarz gegen Wichmann, und erneut erlangte er großen Vorteil. Wichmann hatte eine Qualität geopfert, die Ranft aber bis ins Endspiel hartnäckig und umsichtig verteidigte. Im Unterschied zum letzten Jahr wusste er dieses Mal ganz genau, wie das Endspiel zu gewinnen war, mit welcher Endspieltechnik er ein paar Wichmann’schen Schwindelversuchen ausweichen musste, um sich schließlich den ganzen Punkt abzuholen. Diese gelungene Revanche war gleichzeitig auch eine kleine Genugtuung für die absolut verkorkste Punktspielsaison. Dass Ranft erst in der Runde davor Großmeister Pawel Jaracz ein Remis abgenommen hatte, wäre für Wichmann überhaupt kein Seelentrost gewesen. Da fließt es gleich aus ihm heraus, nämlich wie einst Steffen Andresen versuchte, Martin Borriss nach einer verdorbenen Partie damit aufzumuntern, dass auch schon andere Leute gegen seinen Gegner verloren hätten. Borriss sei kurz davor gewesen, gegenüber dem damaligen Mannschaftskameraden gewalttätig zu werden.
Die Runde am nächsten Morgen verlief für Wichmann noch schrecklicher. Als er auf eine Dauerschachmöglichkeit verzichtete, wurde er von Dirk Seiler (1989, SC Leipzig-Gohlis) blitzartig mit einem Turmopfer ausgekontert. Das dreizügige Matt danach war nicht mehr zu verhindern. Nukleares Schweigen, das an eine unheimlich lange Gedenkminute erinnerte, beendete die Partie. Blickkontakt erntete nur das Nebenbrett. Dieses Mal schien es ganz und gar nicht Wichmanns Turnier zu sein. Warum hatte er nicht einfach mit der Dame auf h2 und h1 ewiges Schach geboten? Die Antwort ist denkbar einfach wie skurril, – weil die Dame dort schon einmal gestanden hatte, dann hätte er es ja wohl auch ein weiteres Mal gesehen. Das Verlieren gehört für ihn genauso dazu wie das Gewinnen. Außerdem ist Remis für ihn ohnehin wie Verlieren. Schließlich hatte er sich ja einiges vorgenommen, beispielsweise auch nicht mehr an der Siegerehrung teilzunehmen, sollten sich die internationalen Titelträger davor wieder alle längst aus dem Staub gemacht haben. Wie Geldräuber ohne Diebesgut. Man stelle sich nur einmal vor, es ist Siegerehrung, und keiner geht hin. Schachgroßmeister ist eben nicht automatisch ein Titel für Gesellschaftsfähigkeit, sondern eher ein Beweis, dass das Genie den Gegenentwurf zur Normalität darstellt. Doch um einen Preis abzulehnen, ihn sich nicht bei einer Siegerehrung überreichen zu lassen, dafür muss man ihn erst einmal gewinnen. Man kann ja nur ablehnen, was man auch angeboten bekommt. Insofern ist die schlechte Nachricht, dass es für Cliff Wichmann dieses Mal nur zum 36. Platz gereicht hat, die gute Nachricht lautet, dass er außerhalb der Gefahrenzone, einen Preis zu bekommen, beobachten konnte, dass die Preisgeldhaie dieses Mal ganz brav bis zur Siegerehrung ausharrten. Wurden dieses Mal etwa Sonderzüge eingesetzt oder brachte der Veranstalter selbst Leute wie Grigorij Bogdanovich persönlich ins 25 Kilometer entfernte Löbau nach Hause? Mit dem Turnierveranstalter hat das neue integrative Verständnis der Titelträger tatsächlich zu tun. Das im voraus gegebene Versprechen, das Preisgeld bei Abwesenheit um die Hälfte zu kürzen, genügte schon. Wie auf dem Schachbrett, so galt auch hier, dass die Drohung stärker ist als die Ausführung. Und wer nichts zu befürchten hat, die Preisgeldränge ohnehin verfehlt, kann diesbezüglich leicht optimistisch sein, ohne Geldabzug davonzukommen. Lukas Böttger (2034, TuS Coswig 1920) gehörte dieses Mal zum erlauchten Kreis der Preisträger. Auf dem 12. Platz wurde er dafür belohnt, dass er keine einzige Partie verlor. Schwer wog dabei sein schneller Sieg gegen FM Thomas Schunk (2210, SC Leipzig-Gohlis) in der letzten Runde. Wer weiß, wo er am Ende gelandet wäre, wenn er bereits in der zweiten Runde die Partie gegen FM Volker Seifert (2329, USV TU Dresden) gewonnen hätte. Das Computerprogramm Fritz sah ihn schon mit ungefähr zehn Bauerneinheiten im Vorteil, als er völlig unnötig mit Krawall die Dame opferte. Stattdessen ein feiner Damenzug mit schwebender Leichtfüßigkeit, das wäre es doch gewesen.
Eine verirrte Dame spielte auch bei Dr. Gabriele Just (1789, SV Lok Leipzig-Mitte) die Hauptrolle. Bei fast vollem Brett geriet ihr die gegnerische Dame im 15. Zug ins Fangnetz, die noch kurz davor verträumt in die weiße Königsstellung blickte, bis der Springer plötzlich ausgerechnet in die Grundstellung zurückkehrte und von dort mit scharfem Blickkontakt die weibliche Neugier einfing. Währenddessen ein Pott Kaffee, naturgemäß aus der Äskulaptasse und ein Stück Kuchen vom urbanschen Tresen. Gabriele Just ist eine ältere Dame in jungen Jahren. Der junge Geist Jens Windelbands sah dagegen ganz alt aus.
Ein schnelles Remis ist die Sache von FIDE-Meister Paul Hoffmann (2348, USV TU Dresden) nicht, möge die Stellung auf dem Brett auf den ersten Blick noch so klar danach aussehen, auch noch auf den zweiten und dritten Blick. Er ist immer neugierig auf den natürlichen Ausgang der Geschichte, nicht etwa auf einen künstlichen Verlauf, durch vorherige Remisvereinbarung beispielsweise. Notfalls verfolgt er sein Ziel mit beinahe tierischer Triebhaftigkeit, bis ihm die lauernde Brille anläuft, und so leidet er offensichtlich unter chronischer Aversion, sobald seine Gegner Desinteresse zu erkennen geben, nicht dieselbe Leidenschaft entwickeln, ihn also mit billigen Remisangeboten belästigen und so vom natürlichen Ende einer Partie ablenken wollen. Dann ist er auf dem Brett zu einem Mord fähig, auch wenn, und dann erst recht, sich die Mordwerkzeuge mittlerweile als zu stumpf erweisen, sich also schon dem Frieden ergeben wollen.
Wer ihm dagegen in dieser tiefen Spielsucht mit ebensolcher Hingabe und dazu mit üppiger Phantasie und Schönheit auf dem Schachbrett begegnet, der kann sich der ernsthaften Wahrnehmung Paul Hoffmanns sicher sein. Dann hebt sich sogar dessen Kopf zu einer kurzen Zeit des Erwachens. Aus der Zeit gefallen, Zerrissenheit auf Engelsfedern. Unrasiertes ungeschminkt.
Am Morgen des dritten Wettkampftages spielten Paul Hoffmann und Steffen Michel (2130, Vfl Gräfenhainichen) gegeneinander. Der Äskulapdebütant aus dem Landkreis Wittenberg hatte im Endspiel seinen Randbauern gerade auf h4 gezogen, mit der Absicht, den weißen Bauern auf h3 zunächst festzulegen, um ihn gleich im Folgezug mit dem g-Bauern anzugreifen, so dass für Weiß schließlich nur noch der Randbauer und der falsche Läufer übrig bleiben würden, also genau jener Läufer, der eben nicht die Farbe des Umwandlungsfeldes besitzt, und also nur für eine Punkteteilung sorgen kann. An sich eine triviale Angelegenheit, erst recht für jemanden mit FIDE-Meisterbrief, und so wurde Paul Hoffmann mit einem Remisangebot auf die theoretisch unentschiedene Brettsituation aufmerksam gemacht, aber genau das war für ihn alles andere als gewöhnlich, jedenfalls für einen solchen FIDE-Meister. Er geriet außer Rand und Band, schwebte für einen Moment in allerhöchster Gefahr, komplett die Contenance zu verlieren, denn außerdem habe ihm sein Gegner schon insgesamt dreimal, und also auf das Unverschämteste Remis geboten. Dass es doch jetzt aber Remis sei, hielt ihm Steffen Michel vor. Genau das wollte Paul Hoffmann aber selbst entscheiden und kündigte an, so lange weiterzuspielen, wie er möchte. Patt ist nämlich die Krone des Unentschiedens, aber für so ein Schlussbild muss eine Partie erst bis zum Ende gespielt werden. Im Privatleben sind wir alle unter unserem Niveau.
Mit handwerklichem Feinschliff wollte der Vorjahresdritte, GM Robert Rabiega (2451, SK König Tegel 1949) dieses Mal zum ganz großen Hieb ausholen. Nach dem Sieg gegen WGM Barbara Jaracz übernahm er in der fünften Runde die Tabellenführung. Bis dahin hatte er reichlich im Unterholz ausgeästet, aber genau betrachtet, fast nur Kleinholz eingesammelt. Warte, warte nur ein Weilchen, dann komm’ ich mit dem Hackebeilchen auch zu dir.
Hier strauchelt das
Geflügel und das Schachbrett beginnt in der Luft zu schweben, es entgleitet
der Axt - der Turniersieg wird auf einem anderen Brett entschieden.
„Schach ist die brutalste Sportart der Welt“, resümierte der Ex-Görlitzer Enrico Koch (1986, SC Tarrasch 45 München) und musste gleichzeitig dabei lächeln, weil er ganz genau weiß, dass das Schachspiel dennoch Momente kennt, in denen es sehr gefühlvoll und richtig zart sein kann, dann braucht man ein glückliches Händchen und Fingerspitzengefühl für die richtige Instrumentierung. Manchmal hilft für den Einschlag im richtigen Moment die Axt, ein anderes Mal ist es überlebensnotwendig, sich von schablonenhaften Denkmustern am besten gleich mit der Motorsäge zu trennen, aber wenn es lediglich auf filigrane Veränderungen ankommt, lassen sich Fortschrittchen nur mit der Nagelpfeile erzielen. Eleganz und Ästhetik reichen zur freudetrunkenen Stellungsverliebtheit, mit der sich die Romantiker unter den Schachspielern die Welt gern in prallen Farben ausmalen. Wer jedoch nach dem nüchternen Erfolg sucht und dafür fingerdick Hornhaut auf der Seele hat, darf sich nicht vor der Schönheit des Hässlichen scheuen. Rücksichtsloses Benehmen wie eine Axt, die ausdauernde Verbissenheit einer Motorsäge und die geduldige Renitenz einer Nagelfeile – am besten von jedem ein bisschen, dann reicht es auch für eine Platzierung ganz vorn. In diesem Augenblick kann Licht in Sternenferne so etwas Schönes sein.
Christof Beyer
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Anett Sänger ***
Schachverein Görlitz 1990 e. V. |